Funktioniert ein Schiff ohne Kapitän, ein Königreich ohne Krone? Dieses Experiment ging die Redaktion des Wirtschaftsmagazins Capital ein, in dem sie die jüngste Oktoberausgabe 2016 ohne Mitwirkung ihres Chefredakteurs und in Selbstorganisation herausgab. Gleichzeitig berichtet sie im Leitartikel von Firmen, die neue Arbeitswelten ausprobieren und radikale Änderungen in Organisation und Struktur eingehen. Der Erfolg ist aber nicht in allen Fällen gegeben.
Dass traditionelle, stark hierarchische Unternehmenskulturen ausgedient haben, ist weitgehend akzeptiert. Nach einer Umfrage von Haufe/TNS Infratest stellen Mitarbeiter bei der Frage, was Unternehmen tun müssen, um mit veränderten Anforderungen im Markt mithalten zu können, folgende Wünsche: 1. Weiterbildung, 2. stärkere Partizipation der Mitarbeiter in Unternehmensenscheidungen, 3. Veränderung der Organisationsstruktur, z.B. flachere Hierarchien.
Manche Organisationen, die gerne als Vorreiter gesehen wollen werben medienwirksam mit radikalem Chance. Sie geben ihren Mitarbeitern zum Beispiel soviel Urlaub wie diese möchten, heben fixe Arbeitszeiten auf und proklarieren flache oder gar keine Hierarchien. Es gibt keine Linienstruktur mehr mit Stäben, Haupt- und Unterabteilungen, sondern alles wird flexibel in der Schwarmorganisation geregelt, Projekte nur noch funktions- und hierarchieübergreifend bewältigt.
Aber diese große Freiheit und Flexibilität bedeutet natürlich auch ein Mehr an Verantwortung. Denn selbst, wenn Firmen humanere Arbeitsbedingungen schaffen und vom absoluten Wachstumsparadigma wegkehren, so müssen Arbeitsergebnisse und Erfolg gemessen werden. Wir erhalten die Freiheit, wie wir arbeiten. Aber der Zwang, dass die Ergebnisse geliefert werden müssen, bleibt. Manche Firmen setzen schon Software ein, mit der jeder seine Kollegen nach Projektabschluss leistungsmäßig bewerten soll. Dadurch verlagert sich der ausgeübter Druck, wenn das Klima weiterhin kalt und konkurrierend ist, einfach vom Chef zu den Kollegen. Und so ist es nicht verwunderlich, dass die Sicherheit einer geregelten Abteilungshierarchie von weniger Motivierten und Low-Performern vermisst wird. Wir lernen dabei: die totale Offenheit, sowohl bei Informationen als auch bei Kritik, zieht eher Überflieger und Motivierte an, die anderen werden abgehängt.
Es ist utopisch zu glauben, dass große Unternehmen ganz ohne Führungskräfte funktionieren; es wird immer eine gewisse Hierarchie geben. Denn, selbst wenn jede Information im Unternehmen zugänglich ist (wenn Macht also nicht aus Wissensvorsprung entspringt) und wenn es keine Jobtitel mehr gäbe, die persönliche Arbeitsbereitschaft und -fähigkeit wird nicht über jeden Mitarbeiter gleich verteilt sein. Insofern finde ich die Lösung einer Kreditfirma aus Seattle absurd, allen Beschäftigten, ob Hausmeister oder Manager das gleiche Gehalt, nämlich 70.000 Dollar im Jahr zu zahlen. Gleiche Bezahlung für alle, ist das leistungsgerecht? Das fragen sich sowohl die High Performer (Mitarbeiter mit hoher Motivation und/oder Erfahrung), aber auch Berufsanfänger, die verunsichert sind, ob sie das Geld tatsächlich wert sind. Auch das Experiment bei Capital bewirkte Negatives. Die hierarchiefreie Arbeit bedarf viel mehr Kommunikation und Informationsfluss. Demokratische Prozesse und Partizipation können sehr langwierig sein. Und so wurde viel Zeit in Ausdiskutieren verwendet, wo früher ein Chef einfach den Schlussstrich gezogen hätte. Die Lösung: Eine Gremienarbeit, wo nicht die ganze Mannschaft involviert werden muss und eine Organisation in Projektteams, die relativ autark und lean arbeiten.
Was die kooperative Organisation im Gegensatz zur klassischen Hierarchiestruktur gewinnt, ist die lebendige und offene Diskussionskultur, die den Zusammenhalt befördert. Auch sind die Mitarbeiter motiviert und zufrieden, wenn sie selbst Verantwortung übernehmen können und dadurch sich berufener und wichtiger fühlen. Dann kann man trotzdem akzeptieren, dass man einen Chef hat, der auch deutlich mehr Verantwortung und Verdienst hat.