Im vergangenen Jahr sind 80 000 Flüchtlinge nach Hessen gekommen, in ganz Deutschland waren es über 1 Millionen Menschen. Kanzlerin Merkel gab angesicht der unklaren Lage zu dieser Zeit das Motto heraus: „Wir schaffen das!“
Heute ist die Zahl der Neuankömmlinge deutlich gesunken, so waren es im August 2016 noch rund 1500 in Hessen. Viele Erstaufnahmestellen sind wieder geschlossen, keine Darmstädter Turnhalle muss als Notunterkunft mehr benutzt werden. Ich will hier nicht lang diskutieren, warum die Asylanträge sinken. Natürlich liegt es mit an der Schließung der Grenzen im Balkan und der Türkei. Wir wissen aber auch, dass die Bürgerkriege in Syrien und Afghanistan, die politische Verfolgung in Erithrea und Somalia weiterhin andauern. Mit der „Normalisierung“ der Lage hierzulande nimmt auch die Präsenz in den Medien ab, abgesehen von den Zwischenbilanzen zum Jahrestag von Merkels Rede.
Ich erinnere mich noch genau daran, wie die Welcome-Kultur zu Beginn der Flüchtlingskrise allerorts präsent war. Züge voller Neuankömmlinge trafen auf eine Bahnhofshalle voller Helfer. Die Kleidersammlung nahm schon bald wegen Überfüllung keine Spenden mehr an und die Stadt konnte am Ende nicht allen Freiwilligen ein sinnvolles Einsatzgebiet zuteilen. Die Anteilnahme der Bevölkerung war einfach großartig und bewegend. Und Zuversicht erlebten wir auch auf den öffentlichen Festen, sogar die BBC berichtete über Darmstadts offenherzigem Welcome-Party und Deutschlands optimistischer Gelassenheit gegenüber der Herausforderung.
Heute sind die Probleme andere – es geht nicht mehr um die Bereitstellung von Grundnahrungsmittel und Winterkleidung. Die Erstversorgung haben wir geschafft, ich finde, das für 1 Millionen Menschen zu schaffen ist eine tolle Leistung! Integration dauert aber sehr viel länger, manche sagen 10-15 Jahre. Aus eigener Sicht und am eigenen Leib kann ich sagen, dass es auf jeden Fall kein leichter Prozess ist. Für beide Seiten nicht.
Da sind die Behörden, die mit der Bearbeitung der Anträge nicht nachkommen, da sind die Schulen, die nicht genug Geld und Sprachlehrer bekommen und da sind die Firmen, die nur qualifizierte Arbeitskräfte mit Arbeitspapieren einsetzen können. Jetzt stell Dir die andere Seite vor: Selbst wenn Du keinen offenen Fremdenhass begegnen solltest, wie fühlst Du dich wohl, wenn Du nach Monaten oder selbst Jahren in der Fremde nicht selbstständig sein kannst? Weil Du dein Leben nicht selbst in die Hand nehmen kannst? Weil Du nicht weißt, ob Du überhaupt bleiben darfst, weil Du nicht weißt, ob Du deinen erlernten Job nachgehen wirst oder umlernen musst und weil Du nicht weißt, was mit Deiner Großfamilie passiert und ob Du sie jemals wieder sehen wirst.
Unsicherheit ist das Gefühl, das meine Seminarteilnehmer als sehr unangenehm zurückmelden, zum Beispiel nachdem ich sie in eine schwierige Simulation bringe und meine Instruktionen bewusst wage halte. Damit üben wir das Zurechtkommen mit komplexen, uneindeutigen Problemen. Wenn es aber um existenzielle Unsicherheit geht, müssen wir gegensteuern. Denn wer zu ängstlich ist, zu verwirrt oder belastet, der kann weder lernen noch sich friedlich verhalten. Insofern sind die Bemühungen um Spracherwerb, Schulbesuch, Praktikavergabe und Jobeingliederung der richtige Weg, damit Flüchtlinge Verantwortung für sich selbst tragen können. Dass es dabei auch Probleme im Detail gibt, habe ich heute in der Hessenschau gelesen.
Wir müssen also gerade Kindern so schnell wie möglich eine Struktur geben durch Schulbesuch und gerelgeltem Alltag. Schließlich besteht das Leben (zum Glück) nicht nur aus Arbeit. Da geht es bei unseren Bemühungen auch um – in schönem Verwaltungsdeutsch – sozialer Teilhabe. Das sind alle gesellschaftlichen Aktivitäten von Sportverein bis zum Gottesdienst. Gerade entwickle ich zusammen mit meinen Arbeitskollegen ein experimentelles Projekt, das Flüchtlingskindern durch Theater- und Kommunikationstraining ein spaßiges Freizeitangebot gibt – und zugleich ihre Sprach- und Verständigungsfähigkeiten trainiert. Wie das Ganze im Detail aussehen und ob es von Erfolg gekrönt sein wird, davon werde ich hier bald berichten.
Zusammenfassend kann ich Eines sagen: Zumindest in meinem Umfeld merke ich das starke Engagement weiterhin. Ob es die pensionierte Richterin ist, die nun in ihrer freien Zeit Rechtsberatung gibt oder die Unidozentin, die abends einem depressiven Jugendlichen beisteht oder der Student, der seine Semesterferien freiwillig im Flüchtlingscamp in Griechenland verbringt. Natürlich engagiert sich längst nicht jeder, aber jedes aktive Helfen, jeder ehrenamtlicher Behördengang oder gegebene Deutschstunde berührt mich im Herzen und so freue ich mich, bald meinen kleinen Beitrag dazu zu geben.
Herzlichts,
euer Minh
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!