Deutsch-Polnische-Arabische Begegnung

Am 19.-23.09.2016 habe ich ein interkulturelles Training für das deutsch-polnische Jugendwerk, in Zusammenarbeit mit dem Institut für Migrations- und Aussiedlerfragen und dem Rotary Club Lübbecke/Westfalen, gegeben. Unter dem Motto „Projekt TeamWork. Lernen- voneinander.miteinander.übereinander“ haben zwei polnische Kolleginnen und ich das Seminar durchgeführt. In erster Linie sollen sich dabei Deutsche und Polen zwischen 20 und 30 Jahren begegnen und die kulturellen Eigenheiten kennenlernen. Klassische Seminareinheiten wechselten sich mit informellen Lernphasen ab (Gruppen- und Projektarbeit, Kulturabend). Wir haben uns thematisch mit interkultureller Kommunikation (Wahrnehmungsschemata, Stereotypen, Kulturstandards), nonverbaler Kommunikation und Konfliktumgang im interkulturellen Kontext beschäftigt.

Was mich in dieser Woche besonders gefesselt hat, war der dritte Kultureinfluss: der Orient. Wir hatten einen Ägypter dabei, der heute Elektrotechnik in Ulm studiert, sowie einen Tunesier, der in Tunis Germanistik studierte und nun in Sachsen-Anhalt als Übersetzer arbeitet. Zudem waren zwei syrische Flüchtlinge bei uns, beide sind erst seit einem Jahr in Deutschland und im Raum Bielefeld untergebracht. So wurde aus der ursprünglich bi-nationalen Begegnung eine bunte Mischung, in der wir alle sprachlich, kulturell und zwischenmenschlich viel lernen konnten.

Mir wurde zum einen bewusst, welche direkte Folgen Politik hat: Auf meinen Zugreisen beobachte ich immer wieder Kinder, die  mit ihren neuen geflohenen Freunden zum Fußballtraining fahren. Oder ältere Menschen, die nachfragen und Flüchtlingen den Weg am Handy zeigen. Oder Migranten der 2. oder 3. Generation, die wie selbstverständlich mit den Zugezogenen abhängen. In Deutschland wird durch die Flüchtlingsaufnahme immer deutlicher, dass wir ein Einwanderungsland sind – mit allen Chancen von bereichernder Diversität bis hin zu wirtschaftlichen Wachstum. Und mit allen Herausforderungen wie Ängste (siehe AFD) und Werteunterschiede. Polen hat in der gleichen Zeit ganze zwei Flüchtlingsfamilien aufgenommen, für die polnische Gesellschaft ist die Bürgerkriegstragödie weit weniger ein Thema und dementsprechend waren auch im Seminar die Kenntnisse über Leben und Kultur des arabischen Raumes marginal.

Interkulturelles Lernen: Irritation gehört dazu!

Auf der anderen Seite konnte ich durch das Training erleben, wie wir unsere interkulturelle Kompetenz spielerisch erweitern. Indem wir uns unser Wertesystem bewusst machen. Offen, neugierig und emphatisch das Neue ergründen und uns bewusst werden, dass Empfindungen über „richtig“ und „falsch“ durch Erziehung und Sozialisation beeinflusst werden. Spannende Momente hatten wir etwa, als ich abstrakte Begriffe wie Liebe, Einsamkeit oder Freundschaft pantomimisch darstellen habe lassen. So spielten die arabischen Teilnehmer eine Sisha-Szene nach, weil das in ihrem Kulturkreis der Inbegriff von gesellschaftliches Zusammenkommen ist. Wir Europäer haben eine ganze Weile gebraucht, um auf den gesuchten Begriff „Spaß“ zu kommen. Ich schätze die Deutschen hätten eher eine Party gespielt. Zu heftigen Diskussionen kam es dann in einer Simulation, in der wir die Unterschiede zwischen Beobachtung und Interpretation übten. Die von den Frauen in der Übung getragenen Kopftücher wurden hinterfragt, denn es kam der Verdacht auf, dass damit  auf die muslimische Religion verunglimpfend abgezielt wurde. Gleiches Irritationspotential konnte ich erzeugen, als ich in einer Übung eine Geschichte vorlas, in der es um sexuelle Enthaltsamkeit, Treue und Vertrauen ging. Auch hier wurden die Moralität der verschiedenen Personen sehr unterschiedlich wahrgenommen.

Meine Flucht – eine Dokumentation aus der Handyperspektive

Ein besonders eindrücklicher Moment war für mich, als Mohammed – einer der zwei teilnehmenden syrischen Flüchtlinge – die Dokumentation „My Escape / Meine Flucht“ vorstellte, in der er mitwirkte. Neben anderen Flüchtlingen aus Afghanistan, Eritrea und Somalia hatte er seine beschwerliche Flucht über die Türkei, dem Mittelmeer nach Griechenland und die Balkanroute selbst festgehalten. Mit anderen Fluchtgeschichten, teils über die sozialen Medien aufgestöbert, hat der WDR und Deutsche Welle daraus die Dokumentation gemacht. Durch die Perspektive der Handyvideos fühlten wir uns tatsächlich so, als waren wir bei der Flucht mit dabei. Sogar die Verhandlungen mit den Schleusern sind dokumentiert, mit in Kleidung versteckten Handys unter Lebensgefahr verfilmt. Oder wie das völlig überfüllte Schlauchboot zu kentern drohte.  Ein wichtiger Film zur richtigen Zeit. Momentan ist Mohammed mit seinen Mitstreitern auf einer Fahrradtour nach Berlin, um den Film vorzustellen und Aufmerksamkeit für die Flüchtlingslage zu wecken.

Mein Fazit: Durch Kommunikation und Begegnung lernen wir, die Sicht des Anderen besser zu verstehen und auch bei Uneinigkeit zu respektieren. Daher, schaut euch den Film an!

 

Vor allem […] musst du einen ganz einfachen Trick lernen, dann wirst du viel besser mit Menschen aller Art auskommen. Man kann einen anderen nur richtig verstehen, wenn man die Dinge von seinem Gesichtspunkt aus betrachtet. Ich meine, wenn man in seine Haut steigt und darin herumläuft. – Harper Lee (in „Wer die Nachtigall stört“, 1960)

Funktioniert ein Schiff ohne Kapitän, ein Königreich ohne Krone? Dieses Experiment ging die Redaktion des Wirtschaftsmagazins Capital ein, in dem sie die jüngste Oktoberausgabe 2016 ohne Mitwirkung ihres Chefredakteurs und in Selbstorganisation herausgab. Gleichzeitig berichtet sie im Leitartikel von Firmen, die neue Arbeitswelten ausprobieren und radikale Änderungen in Organisation und Struktur eingehen. Der Erfolg ist aber nicht in allen Fällen gegeben.
Dass traditionelle, stark hierarchische Unternehmenskulturen ausgedient haben, ist weitgehend akzeptiert. Nach einer Umfrage von Haufe/TNS Infratest stellen Mitarbeiter bei der Frage, was Unternehmen tun müssen, um mit veränderten Anforderungen im Markt mithalten zu können, folgende Wünsche: 1. Weiterbildung, 2. stärkere Partizipation der Mitarbeiter in Unternehmensenscheidungen, 3. Veränderung der Organisationsstruktur, z.B. flachere Hierarchien.
Manche Organisationen, die gerne als Vorreiter gesehen wollen werben medienwirksam mit radikalem Chance. Sie geben ihren Mitarbeitern zum Beispiel soviel Urlaub wie diese möchten, heben fixe Arbeitszeiten auf und proklarieren flache oder gar keine Hierarchien. Es gibt keine Linienstruktur mehr mit Stäben, Haupt- und Unterabteilungen, sondern alles wird flexibel in der Schwarmorganisation geregelt, Projekte nur noch funktions- und hierarchieübergreifend bewältigt.
Aber diese große Freiheit und Flexibilität bedeutet natürlich auch ein Mehr an Verantwortung. Denn selbst, wenn Firmen humanere Arbeitsbedingungen schaffen und vom absoluten Wachstumsparadigma wegkehren, so müssen Arbeitsergebnisse und Erfolg gemessen werden. Wir erhalten die Freiheit, wie wir arbeiten. Aber der Zwang, dass die Ergebnisse geliefert werden müssen, bleibt. Manche Firmen setzen schon Software ein, mit der jeder seine Kollegen nach Projektabschluss leistungsmäßig bewerten soll. Dadurch verlagert sich der ausgeübter Druck, wenn das Klima weiterhin kalt und konkurrierend ist, einfach vom Chef zu den Kollegen. Und so ist es nicht verwunderlich, dass die Sicherheit einer geregelten Abteilungshierarchie von weniger Motivierten und Low-Performern vermisst wird. Wir lernen dabei: die totale Offenheit, sowohl bei Informationen als auch bei Kritik, zieht eher Überflieger und Motivierte an, die anderen werden abgehängt.
Es ist utopisch zu glauben, dass große Unternehmen ganz ohne Führungskräfte funktionieren; es wird immer eine gewisse Hierarchie geben. Denn, selbst wenn jede Information im Unternehmen zugänglich ist (wenn Macht also nicht aus Wissensvorsprung entspringt) und wenn es keine Jobtitel mehr gäbe, die persönliche Arbeitsbereitschaft und -fähigkeit wird nicht über jeden Mitarbeiter gleich verteilt sein. Insofern finde ich die Lösung einer Kreditfirma aus Seattle absurd, allen Beschäftigten, ob Hausmeister oder Manager das gleiche Gehalt, nämlich 70.000 Dollar im Jahr zu zahlen. Gleiche Bezahlung für alle, ist das leistungsgerecht? Das fragen sich sowohl die High Performer (Mitarbeiter mit hoher Motivation und/oder Erfahrung), aber auch Berufsanfänger, die verunsichert sind, ob sie das Geld tatsächlich wert sind. Auch das Experiment bei Capital bewirkte Negatives. Die hierarchiefreie Arbeit bedarf viel mehr Kommunikation und Informationsfluss. Demokratische Prozesse und Partizipation können sehr langwierig sein. Und so wurde viel Zeit in Ausdiskutieren verwendet, wo früher ein Chef einfach den Schlussstrich gezogen hätte. Die Lösung: Eine Gremienarbeit, wo nicht die ganze Mannschaft involviert werden muss und eine Organisation in Projektteams, die relativ autark und lean arbeiten.
Was die kooperative Organisation im Gegensatz zur klassischen Hierarchiestruktur gewinnt, ist die lebendige und offene Diskussionskultur, die den Zusammenhalt befördert. Auch sind die Mitarbeiter motiviert und zufrieden, wenn sie selbst Verantwortung übernehmen können und dadurch sich berufener und wichtiger fühlen. Dann kann man trotzdem akzeptieren, dass man einen Chef hat, der auch deutlich mehr Verantwortung und Verdienst hat.

In der Süddeutschen Zeitung war am 17./18. September 2016 ein Artikel über den Cellisten Yo-Yo Ma zum Kinostart seines Filmes „The Music of Strangers“.

Kultur heißt nicht, Traditionen zu konservieren sondern sie weiterzuentwickeln. Und gerade an diesen Nahtstellen zwischen unterschiedlichen Kulturen entstand schon immer viel Neues – Yo Yo Ma

2013 konnte ich Yo-Yo Ma live erleben in der Berliner Philharmonie. Es war ein wundervoller Abend, an dem zu jeder Zeit klar war, dass das komplette Ensemble dem Stargast zuarbeitete. Ein Solo folgte dem anderen und mir schien, dass selbst der Dirigent sich zurückhielt,  um Mas Interpretationen Raum zu geben. Dennoch konnte ich keine Starallüren erkennen, er lenkte beim Applaus den Fokus bewusst  auf einzelne Künstler des Ensembles.

Diese Bescheidenheit finde ich vorbildlich und wurde im besagten Zeitungsartikel bestätigt, da Ma sich wohl desöfteren bei Aufführungen in die zweite Reihe setzt, um anderen Cellisten die Glanzrolle zu überlassen. Ein Star, der würdigt, dass das Team ihn erst glänzen lässt, ist ein wahrer Teamplayer. Ein weiterer Aspekt, der mir bisher unbekannt war, ist: Ma`s interkulturelle Intelligenz. Er hat ein Benefizkonzert gegeben für Flüchtlinge in München, bei dem er sich auf Augenhöhe zu den Zuhörern stellte und ihnen zunächst die europäischen Musikinstrumente und das für afrikanische Ohren fremde System in Dur und Moll vorstellte.

Die universale und verbindende Sprache durch Musik hat Yo Yo Ma schon Ende der Neunziger Jahre umgesetzt, als er anfing mit dem Silk Road Ensemble moderne und traditionelle Instrumente und Rhythmen aus Vorder- und Hinterasien bis China zu vereinen. Der kürzlich erschienene Dokumentarfilm „The Music of Strangers“ ist ein eindrucksvolles Zeugnis dieses interkulturellen Austausches. Absolut sehenswert!

Alles beginnt mit einem Stück, das einer von uns mitbringt. Dann müssen wir so etwas wie musikalisches Vertrauen aufbauen. Wenn wir beispielsweise eine persische Tonleiter nehmen, dann ist sie für einen klassischen Pianisten zunächst einmal verstimmt. Der Schritt von verstimmt zu „Das ist ja wunderschön“ ist dann so etwas wie ein gleichzeitig musikalischer und emotionaler Schalter, den wir finden müssen. Das ist Vertrauen, als ob man einen Wildfremden zu sich nach Hause einlädt, weil einem das Bauchgefühl sagt, dass das funktioniert.

 

 

Ich war am Wochenende seit Langem mal wieder im Urwald unterwegs. Leider nicht in den lianenbewachsenen Mangrovenwälder Vietnams, aber auch Deutschland besitzt faszinierende Waldgebiete, ganz ohne menschliche Einwirkung. Hier sieht man eindrücklich, wie „wild“ ein echter deutscher Wald aussieht. Mein Tipp: Eine Moutainbikefahrt im Urwaldsteig Edersee über Stock und Stein, auf umgefallenen Bäumen balancierend, durch dichte Rotbuchentäler! Das ist Natur und Abenteuer pur – inmitten von Hessen.

Ich war diesmal aber nicht zum Urlaub hier. Im Nationalpark Kellerwald und westlich vom Edersee gelegen, hat die Sportjugend ein Erlebniscamp inklusive Kanubucht, Kletterpark und Bogenschießanlage errichtet. Diesmal führte ich mit 6 anderen Kollegen ein Teamtraining durch. Unser Kunde war eine Zahnarztgemeinschaftspraxis, an drei Standorten und mit rotierenden Ärzten arbeitend, aber unter einer gemeinsamen Führung mit zentraler Verwaltung und angeschlossenem Labor. 50 Personen waren da, also bestehen Parallelen zu einem mittelständigen Unternehmen. Was kann die naturnahe Erlebnispädagogik diesen Stadtmenschen geben?

Der Trainingstag war detailliert durchgeplant. Unser Ziel war, dass die einzelnen Mitarbeiter sich mehr mit der Gesamtinstitution identifizieren, Verständnis für die besonderen Gegebenheiten der einzelnen Zahnarztpraxen entwickeln und die Eigenheiten von den weniger vertrauten Kollegen kennenlernen. Daher wurde die Mannschaft in Gruppen aus unterschiedlichen Arbeitsbereichen geteilt. Ich führte Team Banane an und schickte sie in meiner Station durch das Spinnennetz, eine klassische erlebnispädagogische Übung. Hierbei muss das Team seine Leistungsfähigkeit realistisch einschätzen, denn die Teilnehmer überqueren im Team nacheinander ein Seilgeflecht. Da wie beim heißen Draht jede Berührung bestraft wurde, war Geschicklichkeit, Koordination und im wortwörtlichen Sinne Sich-aufeinander-stützen erforderlich. So wurde der Vormittag mit einer Reihe von Kletter- und Vertrauensübungen, Geschicklichkeits- und Teamspielen verbracht, die für die eigentliche Aufgabe am Nachmittag vorbereiteten – dem Seifenkistenbau.

Die Praxisgemeinschaft wurde in vier Abteilungen eines Automobilherstellers eingeteilt. Es wurden 4 Modelle gebaut: Jeep, Kombi, Cabrio und Sportwagen. Am Ende sollte jedes Auto einzigartig designt sein, zudem gab es eine Enthüllungsshow und den TÜV-Test. Gekrönt wurde dies mit dem Zeitrennen. Jedes Team hatte zunächst die Aufgabe, Arbeitsrollen wie Cheftechniker, Gruppenleiter, Marketing oder Einkauf zu besetzen. Dazu gab regelmäßige Meetings für die Führungs- oder Fachabteilungen und jede Besorgung, ob Schraube, Farbe oder Stoffe musste mit dem am Vormittag verdienten Spielgeld gekauft werden. Am Ende, nachdem die Seifenkistenmodelle unter Zeitdruck konstruiert und präsentiert wurden, stand der Wettkampf an. Ein Rennen um jede Hundertstelsekunde, sogar mit halsbrecherischem Überschießen der Ziellinie. Eine der Motorhauben fiel der Gartenbestuhlung zum Opfer – Firmenlogo (natürlich ein Zahn) kaputt, aber Podest erklommen! Die obligatorische Siegerehrung mit Sektregen wurde dadurch erst recht zum großen Spaß für alle.

In der allgemeinen Heiterkeit schaue ich mit einem schmunzelnden Auge auf die Menge. Vordergründig bereiteten wir einer Ärztegruppe ein schönes Unterhaltungswochenende. Hinter dem Spaß steht jedoch ein pädagogisches Konzept, das den Teilnehmern neue Kompetenzen verleiht. Da ist die Organisation mit Ärzten, Arzthelfern, med.-techn. Assistenten und Labortechnikern, für die Themen wie Vertrauen, Qualitätssicherung, Zuverlässigkeit und Arbeitsmotivation sehr wichtig sind. Durch eine handlungsorientierte Simulation wird schnell deutlich, wo Lernbedarf besteht. Da fordert ein Chef kreative Lösungsideen von seiner Mannschaft, merkt aber nicht, dass er durch seine Dominanz und Redeanteil eine produktive wie kreative Beteiligung seiner Untergebenen unterbindet. Da lernt ein Zahntechniker, dass die Rolle des Technikchefs das Delegieren und Motivieren seiner Hilfstechniker beinhaltet und wie schnell man selbst durch eine neue Aufgabe überfordert ist. Da muss ein anderer Teamchef feststellen, dass die Menge an Aufgaben ohne richtige Priorisierung die ganze Mission gefährdet und viel Zeit z.B. in Meetings vergeudet wird. Und manch einer merkt, dass die anfangs von ihm gewählte Rolle am Ende gar nicht zu seinen Stärken passt. Wer mag schon vor einer Gruppe ein Verkaufsgespräch führen, wenn er lieber lackieren möchte? Eindrucksvoll fand ich, wie positiv sportlicher Ehrgeiz sich auswirkt, denn Anerkennung und Bewunderung sind für uns zwei sehr hohe Motivationsanreize. Natürlich sollte es auch hier Grenzen geben, denn sonst führt Siegermentalität zum ausschließenden Abteilungsdenken, das zu Lasten der gemeinsamen Firmenidentität geht. Dies wiederum ist gelebter Alltag vieler Firmen, wenn man das große Ganze aus den Augen verliert.
Es war ein schöner Tag. Erlebnispädagogik, davon bin ich überzeugt, ist wirksam durch seinen Ernstcharakter und der besonderen Lernumgebung. Realitätsnahe Simulationen, wenn auch nicht am beruflichen Kontext orientierend, geben den Teilnehmern die Möglichkeit, Fähigkeiten auszuprobieren und Werte zu überdenken. Und wenn in einer Diskussion über Fehlerkultur konkrete Maßnahmen für eine vertrauensvollere Zusammenarbeit entstehen, hier durch ein anonymisiertes Fehlermeldesystem für die Kronenherstellung, dann bin ich sehr zufrieden mit der Lernmethode.

Herzlichts,

Euer Minh

Im vergangenen Jahr sind 80 000 Flüchtlinge nach Hessen gekommen, in ganz Deutschland waren es über 1 Millionen Menschen. Kanzlerin Merkel gab angesicht der unklaren Lage zu dieser Zeit das Motto heraus: „Wir schaffen das!“

Heute ist die Zahl der Neuankömmlinge deutlich gesunken, so waren es im August 2016 noch rund 1500 in Hessen. Viele Erstaufnahmestellen sind wieder geschlossen, keine Darmstädter Turnhalle muss als Notunterkunft mehr benutzt werden. Ich will hier nicht lang diskutieren, warum die Asylanträge sinken. Natürlich liegt es mit an der Schließung der Grenzen im Balkan und der Türkei. Wir wissen aber auch, dass die Bürgerkriege in Syrien und Afghanistan, die politische Verfolgung in Erithrea und Somalia weiterhin andauern. Mit der „Normalisierung“ der Lage hierzulande nimmt auch die Präsenz in den Medien ab, abgesehen von den Zwischenbilanzen zum Jahrestag von Merkels Rede.

Ich erinnere mich noch genau daran, wie die Welcome-Kultur zu Beginn der Flüchtlingskrise allerorts präsent war. Züge voller Neuankömmlinge trafen auf eine Bahnhofshalle voller Helfer. Die Kleidersammlung nahm schon bald wegen Überfüllung keine Spenden mehr an und die Stadt konnte am Ende nicht allen Freiwilligen ein sinnvolles Einsatzgebiet zuteilen. Die Anteilnahme der Bevölkerung war einfach großartig und bewegend. Und Zuversicht erlebten wir auch auf den öffentlichen Festen, sogar die BBC berichtete über Darmstadts offenherzigem Welcome-Party und Deutschlands optimistischer Gelassenheit gegenüber der Herausforderung.

Heute sind die Probleme andere – es geht nicht mehr um die Bereitstellung von Grundnahrungsmittel und Winterkleidung. Die Erstversorgung haben wir geschafft, ich finde, das für 1 Millionen Menschen zu schaffen ist eine tolle Leistung! Integration dauert aber sehr viel länger, manche sagen 10-15 Jahre. Aus eigener Sicht und am eigenen Leib kann ich sagen, dass es auf jeden Fall kein leichter Prozess ist. Für beide Seiten nicht.

Da sind die Behörden, die mit der Bearbeitung der Anträge nicht nachkommen, da sind die Schulen, die nicht genug Geld und Sprachlehrer bekommen und da sind die Firmen, die nur qualifizierte Arbeitskräfte mit Arbeitspapieren einsetzen können. Jetzt stell Dir die andere Seite vor: Selbst wenn Du keinen offenen Fremdenhass begegnen solltest, wie fühlst Du dich wohl, wenn Du nach Monaten oder selbst Jahren in der Fremde nicht selbstständig sein kannst? Weil Du dein Leben nicht selbst in die Hand nehmen kannst? Weil Du nicht weißt, ob Du überhaupt bleiben darfst, weil Du nicht weißt, ob Du deinen erlernten Job nachgehen wirst oder umlernen musst und weil Du nicht weißt, was mit Deiner Großfamilie passiert und ob Du sie jemals wieder sehen wirst.

Unsicherheit ist das Gefühl, das meine Seminarteilnehmer als sehr unangenehm zurückmelden, zum Beispiel nachdem ich sie in eine schwierige Simulation bringe und meine Instruktionen bewusst wage halte. Damit üben wir das Zurechtkommen mit komplexen, uneindeutigen Problemen. Wenn es aber um existenzielle Unsicherheit geht, müssen wir gegensteuern. Denn wer zu ängstlich ist, zu verwirrt oder belastet, der kann weder lernen noch sich friedlich verhalten. Insofern sind die Bemühungen um Spracherwerb, Schulbesuch, Praktikavergabe und Jobeingliederung der richtige Weg, damit Flüchtlinge Verantwortung für sich selbst tragen können. Dass es dabei auch Probleme im Detail gibt, habe ich heute in der Hessenschau gelesen.

Wir müssen also gerade Kindern so schnell wie möglich eine Struktur geben durch Schulbesuch und gerelgeltem Alltag. Schließlich besteht das Leben (zum Glück) nicht nur aus Arbeit. Da geht es bei unseren Bemühungen auch um – in schönem Verwaltungsdeutsch – sozialer Teilhabe. Das sind alle gesellschaftlichen Aktivitäten von Sportverein bis zum Gottesdienst. Gerade entwickle ich zusammen mit meinen Arbeitskollegen ein experimentelles Projekt, das Flüchtlingskindern durch Theater- und Kommunikationstraining ein spaßiges Freizeitangebot gibt – und zugleich ihre Sprach- und Verständigungsfähigkeiten trainiert. Wie das Ganze im Detail aussehen und ob es von Erfolg gekrönt sein wird, davon werde ich hier bald berichten.

Zusammenfassend kann ich Eines sagen: Zumindest in meinem Umfeld merke ich das starke Engagement weiterhin. Ob es die pensionierte Richterin ist, die nun in ihrer freien Zeit Rechtsberatung gibt oder die Unidozentin, die abends einem depressiven Jugendlichen beisteht oder der Student, der seine Semesterferien freiwillig im Flüchtlingscamp in Griechenland verbringt. Natürlich engagiert sich längst nicht jeder, aber jedes aktive Helfen, jeder ehrenamtlicher Behördengang oder gegebene Deutschstunde berührt mich im Herzen und so freue ich mich, bald meinen kleinen Beitrag dazu zu geben.

Herzlichts,
euer Minh